Was sieht man im Bild links?
Eine relativ einfache Struktur im Zentrum. Es gibt größere gleichgefärbte Gebiete.
Und darum herum ein Farbchaos. Jedes Pixel scheint eine andere Farbe als die Nachbarpixel zu haben. Etwas
poetischer ausgedrückt könnte man sagen, wir sehen eine "Insel im Chaosmeer". Aber sehen Sie genau hin:
Es scheint auch im Chaosmeer gewisse Strukturen zu geben...
Chaos ist uns auf diesen Seiten schon häufig begegnet. Im Kapitel Simulationen: Doppelpendel, Kicked Rotator, im Kapitel Maps: Standardmap und auch in diesem Kapitel: Feigenbaum-Diagramm. Der Lyapunov-Exponent gab uns sogar eine Möglichkeit, den Grad des Chaos zu messen.
Wir werden hier anhand der genannten Beispiele versuchen, uns einen Überblick zu verschaffen: Ist ein System stabil? Wie nah ist es an chaotischem Verhalten? Reicht eventuell eine winziger Impuls, so dass es sich jeder weiteren Berechenbarkeit entzieht?
Zu Beginn müssen einige häufig in diesem Zusammenhang benutzte Begriffe geklärt werden:
Energiefläche (E = konstant): Die obigen Überlegungen zum Doppelpendel mit konstanter Energie
reduzieren die Dimension des Raumes der real erreichbaren Punkte des Phasenraums.
Dieser kleinere Raum wird Energiefläche genannt. Im Fall des
Doppelpendels ist das ein T3-Torus, dessen Oberfläche dreidimensional ist. Weil man sich diesen Torus nicht
vorstellen kann, hilft man sich mit einem Gedankenexperiment: Wenn man den T2-Torus senkrecht aufschneidet und
verbiegt, entsteht ein Zylinder. Den kann man wieder aufschneiden und man bekommt ein Rechteck. (Allerdings ist
zu beachten, dass zwei Punkte auf gegenüberliegenden Seiten, in Wirklichkeit nur einen Punkt darstellen.)
Überträgt man diese Modellvorstellung auf den T3-Torus, dann bekommt man nach zweimaligem "aufschneiden" einen
Quader. Die Energiefläche eines Doppelpendels, bei dem die Energie konstant bleibt, ist daher topologisch
gesehen ein Quader.
Wenn Sie das verstanden haben, dann können Sie sicher auch sagen, was die Energiefläche beim mathematischen
Pendel (ohne Reibung) ist. Die Antwort finden Sie ganz unten...
Invariante Menge:
Beim Doppelpendel ohne Reibung und ohne Schwerkraft ist, wie weiter oben bereits erwähnt,
die Anzahl der freien Parameter weiter reduziert.
Die so eingeschränkte Energiefläche
heißt "invariante Menge". Das obige Bild zeigt einen Poincaré-Schnitt eines 3-dim Phasendiagramms
für den Spezialfall der Schwerelosigkeit. Die unteren
Trajektorien kommen zustande, wenn sich das obere Pendel überschlägt. Jede dieser Trajektorien hat
auf der Oberfläche eines T2-Torus Platz. Man sagt, die T3-Energiefläche wird durch invariante T2- Mengen
"geblättert".
Im folgenden Sketch weiter unten können Sie selbst ein derartiges Phasendiagramm im Browser erzeugen.
Bei jedem Klick
werden drei weitere Trajektorien eingetragen.
Wenn Sie in die untere linke Ecke klicken, wird alles gelöscht und drei neue Trajektorien gezeichnet.
Beachten Sie, dass die Linien nur deshalb teilweise gestrichelt
erscheinen, weil nicht genügend Folgepunkte errechnet werden. Sehr viel schneller und mit tausenden von
Start- und Folgepunkten geht es mit der threaded-Version (sofern Ihr Processor mehr als 2 Cores hat ;-)).
Es lohnt sich, das Doppelpendel ohne Schwerkraft noch weiter zu untersuchen. Schauen Sie sich dazu das
nächste nächste Kapitel an.
Poincaré-Schnitt: Wenn man allerdings ein Phasendiagramm für ein
Doppelpendel im Schwerefeld
der Erde oder für einen Kicked-Rotator
zeichnen will, dann muss man sich mit dem Problem rumschlagen, dass
in beiden Fällen drei Freiheitsgrade existieren. Weshalb dies beim Doppelpendel der Fall ist, habe wir schon
besprochen. Beim Kicked Rotator gibt es zwar nur einen Pendelstab und es existiert auch kein Schwerefeld,
dafür aber gilt der Energieerhaltungssatz wegen der periodischen Kraftstöße nicht. Und außerdem bleibt die
Frequenz der Kraftstöße.
Für solche Fälle bedient man sich der Hilfe eines Poincaré-Schnitts, wie er im Bild links angedeutet ist.
Es werden nur die Durchstoßpunkte von einer Seite aus eingezeichnet. Im Falle des Kicked Rotators wählt man
etwa immer genau den Moment, in dem der Kraftstoß erfolgt. Beim Doppelpendel kann man beispielsweise immer genau
den Zustand wählen, bei dem das untere Pendel von links her schwingend durch die Ruhelage geht.
Der Torus links soll eine periodische Bewegung des Doppelpendels darstellen. Dir Rotationszahl ist 1:4, d.h.
während sich das obere Pendel einmal dreht, dreht sich das untere Pendel vier mal. Ein Poincaré-Schnitt würde
lediglich einen Punkt zeigen, gleichgültig, wo der Schnitt erfolgt. Ist die Rotationszahl aber nicht rational,
dann wird die Bewegung die gesamte Oberfläche des Torus ausfüllen. Der Poincaré-Schnitt wäre ein Kreis (bzw.
eine andere geschlossene Linien, wie zum Beispiel eine Ellipse, wenn der Torus verformt ist.)
Die Poincaré-Schnitte für den Kicked Rotator als auch für das Doppelpendel werden im Kapitel
Maps
genauer untersucht. Es lohnt sich dort mal vorbeizuschauen...
Im Fall des Doppelpendels ohne Schwerkraft, gibt es ja nur zwei freie Parameter. Warum wir weiter oben dennoch
einen Poincaré-Schnitt zeichnen ließen, statt einfach nur ein Phasendiagramm, wie im Fall des mathematischen
Pendels, erfahren Sie im anschließenden Kapitel.
KAM-Theorem: Der Kicked Rotator und das Doppelpendel sind nur zwei Beispiele,
bei denen man zum besseren Verständnis der Bewegung einen Poincaré-Schnitt erstellt. Selbst in Medizin oder
Astronomie kann man mit diesen Phasendiagramm-Schnitten (=Surface of Section) zu wesentlichen Erkenntnissen kommen.
Das obige Bild ist ein Ausschnitt aus einem Poincaré-Schnitt des
Doppelpendels bei einer bestimmten Gesamtenergie.
Die durchgezogenen Linien repräsentieren
sogenannte KAM-Tori , benannt nach drei Mathematikern Kolmogorow, Arnold
und Moser. Sie umkreisen den Phasendiagramm Torus bzw. Zylinder. Es folgen Richtung Mitte ellipsenförmige
Bereiche. Im Zentrum der Inseln müssen Sie sich einen Punkt denken. Hier schwingt das Doppelpendel periodisch
und der Poincaré-Schnitt der zugehörigen Bewegung besteht lediglich aus diesem einen Punkt.
Allen derartigen Punkten ist eine Rotationszahl zugeordnet. Angenommen, die Zahl wäre 3:4. Dann bedeutet
das, dass, wenn sich das obere Pendel 3 mal gedreht hat, das untere Pendel exakt 4 Umdrehungen durchgeführt hat.
Zwei solche Gebiete sind von Trajektorien umgeben, die dazwischen einen hyperbolischen Fixpunkt aufweisen.
(In obigem Bild ist er irgendwo in den gelben Bereichen zu finden.)
Noch weiter Richtung Bildmitte folgen kleinere, von Chaos umgebene "Inseln".
Diesen Bereich nennt man Cantorus oder Cantor-Menge
, benannt nach dem Mathematiker Georg Cantor. Die Cantor-Menge ist fraktal. Das heißt unter anderem, dass man
bei stärkerer Vergrößerung immer wieder ähnliche Strukturen findet. Wie Sie sehen, kann es zwischen den Inseln Bereiche von
Chaos geben.
Was besagt nun das KAM-Theorem? Wir versuchen die Aussage an einem Beispiel nachzuvollziehen. (Wer es genauer wissen
will, schaut im Internet nach der exakten Formulierung.)
Nachdem Newton das sogenannte "Zweikörperproblem" am Beispiel Sonne-Erde gelöst hatte, war die Hoffnung groß, dass
man auch das "Dreikörperproblem" (Beispiel Sonne-Jupiter-Erde) würde lösen können. An Bemühungen hat es im 19. Jahrhundert
nicht gefehlt. Vergeblich! Im letzten Jahrhundert setzte sich nach und nach die Überzeugung durch, dass das
Problem nicht "integrabel", und damit nicht lösbar ist. Selbst numerische Näherungslösungen taugen nichts, denn
wie soll man wissen, ob eine winzige, rechnerisch nicht fassbare Änderung am Anfang zu völlig verschiedenen Ergebnissen führt.
Bleiben wir bei Sonne, Jupiter und Erde. Zunächst hatte man es mit einem 18-dimensionalen Lösungsraum zu tun.
Wenn man aber Symmetrien nutzt, das Koordinatensystem geschickt wählt, vereinfachenderweise davon ausgeht, dass
alle drei Körper sich nur in einer Ebene bewegen und dann noch der Erde eine Masse nahe Null gibt, ja dann hat
man es nur noch mit eine dreidimensionalen Energiefläche zu tun. Diese Vereinfachung nennt man "ebenes, eingeschränktes
Dreikörperproblem".
Und integrabel ist das System dann auch noch.
Der Poincaré-Schnitt wird dann für die Bewegung der Erde einen KAM-Torus zeigen. Periodisch kann die Bewegung nicht
sein, denn ein Jupiterjahr ist 11,862972 Erdenjahre. Das bedeutet, dass Jupiter der Erde ganz unregelmäßig
"Schwung" gibt. Denken Sie an eine Kinderschaukel. Will man dort einen großen Ausschlag erreichen, muss man
jedesmal an geeigneter Stelle Kraft anwenden. Also zum Beisiel bei jedem dritten Mal, wenn die Schaukel die
aktuell maximale Auslenkung erreicht hat. Wendet man die Kraft irgendwann und schon garnicht regelmäßig an,
dann wird das Kind auf der Schaukel zu Recht protestieren.
Was nützt uns aber dieser Spezialfall, wenn er in keinster Weise der Wirklichkeit entspricht. Hier kommt das
KAM-Theorem zum Einsatz. Es garantiert im Falle einer quasiperiodischen Bewegung, nach Anwenden einer
hinreichend kleinen Störung, Stabilität. Das heißt, nach Auftreten der Störung bleibt die Bewegung (unter
bestimmten Voraussetzungen) quasiperiodisch. Die Störung dabei ist die Änderung der Masse der Erde auf die
wahre Größe. Damit kommt man der realen Situation schon sehr nahe, denn die Bewegung der Planeten mit der Sonne findet
nahezu in einer Ebene statt. Das KAM-Theorem beantwort damit gleichzeitig eine Frage, die die Wissenschaftler
schon seit langer Zeit beschäftigt hat: Weshalb sind die Bahnen von Jupiter und Erde weitgehend stabil?
Um das gerade Gelernte noch zu vertiefen, kommen wir auf die Poincaré-Schnitte der HRV-Parameter
(HRV = Herzratenvariabilität) zurück. Sie haben richtig gelesen: Es geht um ein wichtiges Thema der Medizin. Kann man,
sofern man aus den beiden wesentlichen Parametern SD1 und SD2 des Herzschlags tatsächlich einen Poincaré-Schnitt
erzeugen und die noch wichtigere Frage: Was würde ein solches Diagramm nutzen?
Die erste Frage kann man vorbehaltlos mit "ja" beantworten.
Solche
Diagramme
werden tatsächlich gemacht. Die Frage nach dem Nutzen wird z. B. auf der Seite
Allgemeinarzt-online
ausführlich beantwortet. Was, werden Sie sich fragen, hat das Ganze mit dem KAM-Theorem zu tun? Erfreulicherweise
ist dies sehr einfach zu bentworten: Wenn der Bereich mit den Punkten relativ groß ist, dann ist das Herz in
einem Zustand, der der pseudoperiodischen Bewegung des Doppelpendels ähnlich ist. Das aber heißt, dass kleine
Störungen den Zustand nicht wesentlich ändern. Denn, eines ist gewiss: Würde das Herz im chaotischen Bereich
landen, würde Herzkammerflimmern eintreten. Damit überlebt man nur wenige Minuten. Ein großer Punkte-Bereich
garantiert also, dass selbst bei einer Störung des Herzrhythmusses kein Herzkammerflimmern zu befürchten ist.
Umgekehrt bekommt man die auf den ersten Blick merkwürdige Konsequenz, dass ein sehr regelmäßig schlagendes Herz,
also eines, bei dem die Punkte dicht beieinander liegen, wesentlich gefährdeter ist, in Chaos abzugleiten.
Denn das KAM-Theorem gilt nur für quasistationäre Bewegungen.
Sketch Animation Doppelpendel ohne Schwerkraft.
Die Energiefläche eines mathematischen Pendels ist ein Rechteck.